
Titelthema:
Baby
und
Kleinkind
Hilfe, mein Kind flippt aus
Wie wir unsere Kinder gut durch die Trotzphase begleiten können
von Corinna Fuhrmann
Ein Kleinkind liegt schreiend auf
dem Boden, das kleine Gesichtchen
mit Tränen überströmt, schlägt es um
sich vor Wut. Völlig aufgelöst, scheint
es seine Umgebung überhaupt nicht
wahrzunehmen. Viele Eltern kennen
solche Situationen nur allzu gut - im
Volksmund Trotzphase genannt. Im
Gespräch mit Diplom-Sozialpädagogin
Sabine König haben wir diese Phase
der Ich-Entwicklung genauer beleuchtet
und dabei erfahren, weshalb hier
die Weichen für das weitere Leben
unserer Kinder gestellt werden und
was wir als Eltern tun können, um
sie hierbei bestmöglich zu begleiten.
entdeckung und kampf
um das eigene Ich
Erste Anzeichen der Trotzphase lassen
sich laut Sabine König bereits zwischen
dem 12. und 15. Lebensmonat der Kleinen
feststellen: „In dieser Zeitspanne beginnt
die Ich-Entwicklung – die Entdeckung und
der Kampf um das eigene Ich. Bis dato nehmen
sich die Kinder nicht als eigenständige
Persönlichkeiten war, sondern leben in völliger
Symbiose mit den Eltern.“ Mit einem
Mal aber treten Wünsche, Vorstellungen
und eigene Bedürfnisse auf den Plan. Die
kleinen Individuen wollen gesehen und
gehört werden. Erstmals äußern sie, mitunter
auch recht lautstark, was sie ihrer
Meinung nach gerade brauchen.
Auslöser der Trotzanfälle ist dann
häufig das Bestreben, den eigenen Willen
durchsetzen zu wollen. Aber auch
Eifersucht, Enttäuschung, Angst, Unzufriedenheit
mit sich selbst oder den eigenen
Fähigkeiten sowie Frustration über
Bevormundung und hin und wieder einfach
auch der Spaß am Nein-Sagen können
als Trigger fungieren. So endet nicht selten
der Versuch, sich selbständig die Winterjacke
anzuziehen, im tränenreichen Fiasko
aufgrund der noch unzureichenden Fähigkeiten,
einen Reißverschluss korrekt zu
schließen.
Wie das kind, so der trotz
Die Ausprägungen eines Trotzanfalles sind
dabei so individuell wie das dazugehörige
Kind und dessen Lebensumstände. „Die
Trotzphase gibt es schon immer und in
jedem Kulturkreis“, weiß König. Wie sie
sich aber äußert, hängt von vielen Stellschrauben
ab. Beispielsweise spielt die geschichtliche
Epoche, verbunden mit dem
entsprechenden Erziehungsstil eine wichtige
Rolle. Hat das Kind die Möglichkeit,
seine Persönlichkeit frei zu entfalten?
Werden seine Bedürfnisse gehört? Darf
es ohne Angst seinen Gefühlen Ausdruck
verleihen?
Auch die Lebensrealität der Bezugspersonen
oder situationsbedingte Gegebenheiten
beeinflussen den Trotz. So reagieren
müde, hungrige Kinder häufig schneller
gereizt. Eltern mit nur einem Kind haben
eventuell mehr Kapazitäten, den Grund für
einen Anfall zu hinterfragen und entsprechend
auf das Kind einzugehen, als dies in
kinderreicheren Familien möglich ist. Letztlich
prägt jedoch vor allem der Charakter
des Kindes und dessen Anpassungsfähigkeit
die Art und Weise der Trotzanfälle. „Manche
treten, beißen oder schlagen, andere
wiederum suchen extrem die Nähe zu ihren
Bezugspersonen, wollen gehalten oder
getragen werden“, verdeutlicht König und
ergänzt: „Es kommt auch vor, dass die Kleinen
in rhythmische, sich wiederholende
Bewegungsmuster verfallen, einnässen, sich
übergeben oder sogar in Ohnmacht fallen.
Aber so unterschiedlich das Verhalten
der Kinder in dieser Phase auch sein mag,
eines ist ganz typisch – das Trotzereignis
geht mit großer Not und Verzweiflung einher.
Es wird extrem viel Energie freigesetzt
und die Kinder sind völlig desorientiert, vergessen
sich und verharren unerreichbar in
ihrem Status. Außerdem steckt hinter diesem
Verhalten keine böse Absicht, es ist
also nicht zielgerichtet.“
Im zweiten Lebensjahr intensivieren
sich die Trotzszenarien, befeuert durch die
Erkenntnis von Eigentumsverhältnissen
wie „Mein“ und „Dein“. Teilen ist plötzlich
doof, Abgeben kommt überhaupt nicht in
Frage. Außerdem verstärkt sich die Vorstellungskraft
der Kinder und die Fantasieentwicklung
beginnt. Ab jetzt können
sie sich in bestimmte Situationen extrem
gut hineinfühlen, was auch dazu führen
kann, dass sie sich bestimmte Dinge einbilden.
All das bedeutet zusätzlichen Stress,
was wiederum gesteigerte Wut und intensivere
Trotzphasen zur Folge hat, die mit
etwa zweieinhalb Jahren ihren Höhepunkt
erreichen.
18 baby und kleinkind Luftballon | Oktober/November 2025
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